Die Bilder zeigen die Autorin Victoria Benedictsson und das Ehepaar
Benedictsson (mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek
Lund).
Nachwort des Übersetzers in: "Geld" von Victoria
Benedictsson, © Achius Verlag Zug, 2003, S. 234-240
Die Frau des Postmeisters
Victoria Benedictsson, als Victoria Bruzelius am 6. März 1850
auf einem Landgut in der südschwedischen Provinz Skåne
geboren, wuchs in einem ländlichbürgerlichen Elternhause
auf. Hin- und hergezogen zwischen zerstrittenen Elternteilen, erlernte
sie von ihrem weltzugewandten Vater Dinge wie Reiten und Schießen,
während ihr die fein gebildete, fromme Mutter Zeichnen und
Sprachen beibrachte. Als der heranwachsenden, musisch begabten Victoria,
die von einer Künstlerinnenlaufbahn träumte, das Studium
an der Kunstakademie Stockholm verwehrt wurde, flüchtete sie
sich 1871 in die Ehe mit dem Postmeister Christian Benedictsson,
einem mehr als doppelt so alten Witwer in Hörby. Die Ehe, die
sie erklärtermaßen nicht als Liebesgemeinschaft verstand,
erbrachte ihr vorerst für lange Jahre nur häusliche Pflichten.
Sie soll aber mit großer Gewissenhaftigkeit für den Haushalt
und die fünf Kinder des Postmeisters gesorgt haben; sie selbst
brachte zwei Kinder zur Welt, war zudem ihrem Ehemann in dessen
Geschäften behilflich und führte eine kleine Buchhandelsfiliale.
Bereits in diese Zeit nüchterner, kleinbürgerlicher Existenz
fallen ihre ersten literarischen Versuche. Sie schrieb formvollendete
Gedichte und Kleinprosa in idealistisch-romantischer Manier, und
im Jahr 1875 gelang es ihr erstmals, eine Erzählung ("Die
Sirene") im "Südschwedischen Tagblatt" zu veröffentlichen.
Allerdings wurde der Jungautorin von nachsichtigen Redaktoren bei
dieser und bei späteren Gelegenheiten geraten, sich beim Schreiben
doch eher an der Wirklichkeit als an irgendwelchen Romanvorlagen
zu orientieren. Diese Zeit der Reifung und der Loslösung aus
einem eher romantisierenden Mädchendasein fand in der Begegnung
mit dem Amerikaner Charles de Quillfeldt ihren Abschluss. Die Freundschaft
mit diesem Freigeist, Atheisten und Kosmopoliten, der sich 1877-1880
in Hörby aufhielt und bei den Benedictssons ein- und ausging,
befreite sie endgültig von ihrer traditionellkonservativen
Weltsicht. Und als sie nach dessen Abreise wegen eines Beinleidens
für längere Zeit ans Bett gefesselt war, konnte sie sich
unbelastet ihrem Bildungsdrang und ihren literarischkünstlerischen
Interessen hingeben; ein halbjähriger Therapieaufenthalt 1882/1883
in Malmö brachte sie erstmals in engeren Kontakt mit dem städtischen
Kultur- und Literaturleben.
Zur Schriftstellerin gereift
Victoria Benedictsson fand nun sehr rasch zu ihrem Stil und schrieb,
nach Hörby zurückgekehrt, mit ungebrochener Schreiblust
die Geschichten, die sie schließlich 1884 unter dem Pseudonym
Ernst Ahlgren als Novellensammlung "Från Skåne"
("Aus Skåne") veröffentlichte. Die wirklichkeitsnahen
Schilderungen des Volkslebens in ihrer südschwedischen Heimat
- naturalistisch, frei von Sentimentalität und Idealisierung
- wurden zum Erfolg und machten sie mit einem Schlag bekannt.
In eben jener Zeit um 1883 fand sie im jungen, durch und durch progressiv
denkenden Axel Lundegård, dem Sohn des neuen Pastors in Hörby,
einen Freund, der sie als literarischer Berater und enger Vertrauter
durchs ganze Leben begleiten sollte. Mit ihm zusammen versuchte
sie sich als Dramatikerin, blieb allerdings mit dem Stück "Finale"
oder mit dem Einakter "Am Telefon" glücklos. Ihr
nächstes Werk, der 1885 erschienene Roman "Pengar"
("Geld") jedoch wurde wieder zum Großerfolg. Die
Geschichte, die die Stellung der Frau in der Ehe hinterfragt, war
thematisch eingebettet in den Diskurs der 1880er Jahre, der die
Kulturschaffenden und die "Realisten", d. h. die Literaten
des "Jungen Schweden" ("Unga Sverige") umtrieb;
sie trägt deutlich die Spuren der Debatten über die Sittlichkeits-
und Geschlechterfrage jener Zeit.
In Selma, der jungen Heldin, schuf Victoria Benedictsson eine Frauengestalt,
die in ihrem unbändigen Willen zur Selbstentfaltung bald an
die Grenzen von Mentalität und Gesetz einer männerdominierten
Welt stößt. Victoria Benedictsson beschrieb damit weitgehend
die Geschichte ihrer eigenen Jugendzeit; denn auch die junge Selma
endet schließlich, nachdem ihre Träume von einer Kunstkarriere
zunichte gemacht worden sind, in einer Vernunftehe mit einem älteren
Mann, dem Großbauern Kristerson, und sie erlebt eine Verbindung,
die sie immer widerwilliger erträgt. Mit psychologischem Feingespür
ist die Dynamik eines Ehelebens beschrieben, die einer Entscheidung
zutreiben muss und letztlich auch zutreibt.
Im Herbst 1885 reiste Victoria Benedictsson nach Kopenhagen und
kam erstmals in Berührung mit dem Kreis um Georg Brandes, dieses
bewunderten Vordenkers der literarischen Moderne im Norden. Und
während eines anschließenden mehrmonatigen Aufenthaltes
in Stockholm lernte sie die führenden Autoren des "Jungen
Schweden" - u. a. die Brüder Geijerstam, Ola Hansson,
Ellen Key, Anne Charlotte Leffler und Alfhild Agrell - kennen und
beeindruckte als seltsam geheimnisumwitterte Gestalt, als "Königin
an Krücken", die Schriftstellerinnen in den Diskussionsgruppen
und Salons. Dieser Aufenthalt schärfte ihr Urteilsvermögen,
auch gegenüber den Persönlichkeiten und der Literatur
der anderen jungen Autoren, und ließ sie selbstbewußter
auf ihrem literarischen Weg weitergehen. In der Folge arbeitete
sie zu Hause in Hörby an ihrem nächsten, großen
Roman, entfloh jedoch bereits im Herbst 1886 der dörflichen
Einsamkeit und reiste nach Kopenhagen - in der Hoffnung, sich der
Literatenszene anschließen zu können.
Im Banne von Georg Brandes
Die Bekanntschaft mit Brandes - vermittelt durch Lundegård
- wurde für Victoria Benedictsson zur Bestimmung. Denn ihre
Faszination für diesen vergötterten Gelehrten schlug sehr
bald in Liebe um, und sie entwickelte eine bis dahin nicht gekannte,
bedingungslose Leidenschaft. Diese wurde von Brandes, der in einer
äußerlich intakten Ehe lebte, aber für seinen freizügigen
Umgang mit Frauen bekannt war, anfänglich auch erwidert. Doch
sehr bald wurde spürbar, dass die für sie so ernsthafte
Beziehung für ihn kaum mehr als ein Zeitvertreib war.
Im Frühjahr 1887, nach einem zweimonatigen Aufenthalt in Paris,
publizierte sie "Fru Marianne" ("Frau Marianne"),
einen umfangreichen Roman, in dem sie wiederum eine Ehebeziehung
auslotete. Aber anders als in "Pengar", schilderte sie
in diesem Werk eine Ehefrau, die - in einer von Lieblosigkeit geprägten
Verbindung lebend - nach etlichen Irrungen und Wirrungen wächst
und reift und schließlich zur ehelichen Liebesgemeinschaft
zurückfindet. Die grundsätzliche Frage nach einem Entscheid
für oder gegen die Ehe stellt sich nicht. Die fehlende Radikalität
und die Suche nach Harmonie enttäuschte zwar einige Vertreter
des "Jungen Schweden", doch der Roman fand dennoch weitherum
eine günstige Aufnahme.
Für Victoria Benedictsson wurde jedoch das abfällige Urteil
von Brandes und eine vernichtende Rezension von dessen Bruder Edvard
zur persönlichen Katastrophe. "Erhielt das Todesurteil
über meine Schriftstellerei, vielleicht über mich selbst",
notierte sie in ihr Tagebuch. Sie geriet in eine schwere Lebenskrise,
erholte sich jedoch vorübergehend und verbrachte den Spätsommer
in der Nähe von Stockholm. Dort veröffentlichte sie eine
Sammlung von Kurzgeschichten ("Folkliv och småberättelser"),
die sogar Brandes lobend besprach. Doch im Herbst, nach neuerlichen,
vergeblichen Bemühungen um Brandes' Liebe, fiel sie wieder
in tiefste Depressionen und beging im Januar 1888 - trotz Lundegårds
Wachsamkeit - einen ersten Selbsttötungsversuch. Danach raffte
sie sich noch einmal auf und fuhr, gefördert durch ein Stipendium
der "Schwedischen Akademie", für einige Zeit nach
Paris. Doch der Niedergang war unaufhaltsam; mit dem Gefühl,
nicht verstanden zu werden, mit dem Verlust der literarischen Perspektiven
sowie dem Unvermögen, sich aus der emotionalen Fesselung an
Brandes zu lösen, schwand auch ihr Lebenswille. Kurz nach
der Rückkehr, in der Nacht auf den 22. Juli 1888, setzte sie
in Kopenhagen ihrem Leben ein Ende.
Nachleben
Axel Lundegård, den sie als Nachlassverwalter bestimmt hatte,
vervollständigte und publizierte noch einige ihrer Kurzgeschichten
und das Schauspiel "Den bergtagna" ("Die Verzauberte")
sowie den Roman "Modern" ("Die Mutter"). Aufgrund
von Aufzeichnungen und Briefen schrieb er eine umfassende Biografie,
und in den Jahren 1918-1920 veröffentlichte er unter dem Titel
"Samlade Skrifter av Ernst Ahlgren" ("Gesammelte
Schriften von Ernst Ahlgren") die noch heute gültige,
siebenbändige Werkausgabe.
Über Victoria Benedictsson, die in ihrer kurzen Schaffenszeit
den literarischkulturellen Aufbruch des "Jungen Schweden"
der 1880er Jahre entscheidend mitgeprägt und der Frauenliteratur
zum Durchbruch verholfen hatte, sind in Schweden im Verlaufe des
20. Jahrhunderts immer wieder Studien und Abhandlungen erschienen.
Sie gilt - so die einhellige Beurteilung - nach August Strindberg
als bedeutendste literarische Gestalt in der anbrechenden schwedischen
Moderne. Ihre seltsam-faszinierende Persönlichkeit erfuhr
höchst unterschiedliche Wertungen. Die moderne Forschung versucht,
ihr durch eine differenzierte Betrachtungsweise gerecht zu werden,
sie etwa vom Makel der "frigiden Hysterikerin" zu befreien.
Ihre Forderung, das Leben und Wirken (auch die Sexualität)
der Frau aus den männerbestimmten Prämissen zu lösen,
ist als Anliegen unserer Zeit wieder entdeckt worden. Wissenschafter
und Kulturschaffende haben sich daher in den letzten Jahrzehnten
vermehrt mit ihrer Person und mit ihrem Werk auseinandergesetzt.
Eine der reifsten Früchte dieser Bemühungen ist die Edition
von "Stora Boken" ("Das Große Buch"),
den tagebuchartigen Aufzeichnungen Victoria Benedictssons, durch
Christina Sjöblad in den Jahren 1978-1985. Und die schwedische
Fernsehverfilmung des Romans "Fru Marianne" im Jahre 2000
belegt recht gut die Verbindlichkeit dieses über hundert Jahre
alten Stoffes für unsere Zeit.
Im deutschsprachigen Raum ist Victoria Benedictsson bisher nur gerade
in den wissenschaftlichen Fachbereichen der Germanistik und Skandinavistik
ihrem Range gemäß behandelt worden. Ein allgemeineres
Interesse des lesenden Publikums ist kaum auszumachen, obschon bereits
der Roman "Frau Marianne" (Stuttgart 1890 und erneut Basel
1945) sowie mehrere Kurzgeschichten - etwa "Aus dem Dunkel"
(1911), "Herr Tobiasson" (1912), "Cedergren soupiert
heute" (1912), "Kameraden" (1924) oder "Verbrecherblut"
(1998) - auf Deutsch vorliegen.
Auch der Roman "Pengar" wurde bereits kurz nach dessen
Erscheinen ins Deutsche übertragen. Der Verleger J. H. Schorer
in Berlin nahm den Titel "Geld" 1889/90 in seine Reihe
"Für's Coupé" auf, in der Absicht also, Reisenden
eine kurzweilige Lektüre anzubieten. Dieser Zielsetzung hat
sich Mathilde Mann (1859-1925), die erfahrene Übersetzerin
nordischer Literatur und Lektorin an der Universität Rostock,
offensichtlich untergeordnet, denn sie formte den Roman zu einem
schlanken, leicht lesbaren Text, kürzte und veränderte
unbefangen und führte die Handlung schließlich - der
Vorlage gänzlich zuwider - einem versöhnlichen Ende zu.
Um der literarischen Ursprünglichkeit sowie den persönlichen
und gesellschaftspolitischen Anliegen der Autorin - über den
Unterhaltungswert hinaus - gerecht zu werden, gibt die vorliegende
Übersetzung den Text vorlagentreu und in ungekürzter Form
wieder; sie basiert auf der Ausgabe von Axel Lundegård ("Samlade
Skrifter av Ernst Ahlgren", Bd. 3, 1919).
Der Roman "Geld", in einer Zeit des kulturellen Um- und
Aufbruchs entstanden, dürfte somit die Leserinnen und Leser
von heute als literarisches ebenso wie als historisches Dokument
ansprechen - vor allem aber als Klassiker er Frauenliteratur.
Johannes Wanner
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